Helmuth Hager: Das große Rennen - Eine Bildbesprechung von Eduard Ertl

Eduard Ertl, katholischer Pfarrer und später Mitarbeiter der Bibliothek im Kloster Benediktbeuern, verfasste 1996 folgende Besprechung von Helmuth Hagers Triptychon "Das große Rennen":

 

Helmuth Hager: Triptychon[1]

 

Bild 1

 

Ein Behelmter, Gegürteter, Halbbekleideter in der wichtigtuerischen Pose eines Soldaten überlagert fast die Hälfte des Bildes. Er ist hoch über einer Menschenmenge. Dieser Stuhl ist für ihn, den Illegitimen, den Emporkömmling, den „Soldatenkaiser“ etwas wie ein Herrschaftszeichen. Mit diesem lächerlichen Attribut verrät er sich schon, dass er kein wahrer Hirte der Menschen ist. Mit erhobener Hand gebietet er Aufmerksamkeit und er weist die Richtung an für den Zug der Menschen, die er unter seine Stiefel gebracht hat. Zunächst denkt man noch an einen Karnevalszug. Die Farbenbuntheit lässt darauf schließen. Noch meint man, das Rohr in seiner Hand als Flöte deuten zu können, die sich aber bei näherem Hinsehen als grausames Zepter erweist. Eine Kugel durchbohrt er mit seinem Instrument, ein Synonym für Frieden und Harmonie unter den Menschen. Gesetz und Ordnung werden lächerlich gemacht.

 

Mit brutaler Gewalt setzt er seinen Stiefel auf das Haupt eines Menschen. Alte, hergebrachte Machtsymbole verspottet er (Thron und Thronbesteigung wie bei Kaisern und Päpsten). Von einem bestellten Speichellecker lässt er sich die Stiefel küssen wie ein byzantinischer Kaiser (die Gestalt mit Maske und verbundenen Augen). Er, der neue Pontifex Maximus, genießt es, auf seinem Spottstuhl wie ein römischer Papst auf einer „sedia gestoria“ dahinzuschweben über die „plebs“, das gemeine Volk. Er überragt es mit seiner kolossalen Gestalt. Er findet Zulauf und Zuspruch; aber seine Getreuen werden sogleich zu Statisten, zu einer blinden Gefolgschaft. Maskiert oder auch mit verbundenen Augen schließen sie sich seinem Zug an. Willenlos, wie in einem Rausch, folgen sie der ausgestreckten Hand des neuen Führers. Keiner will den Zug der Zeit verpassen. Das Bild ist voller Dynamik. Die ganze Maskerade folgt taumelnd seinem Wink. Sein Zepter und der spitze Narrenhut (rechts oben im Bild) geben die Richtung an.

 

Der Hintergrund des Bildes ist düster, geisterhaft, dunkel und schwarz. Die paar hellen Streifen am Horizont, etwas wie ein Morgenrot, sollen seine Getreuen glauben machen, dass sie in eine bessere Zukunft geführt werden („Silberstreif am Horizont“!).

 

Inmitten der gespenstischen Gesellschaft eine unmaskierte Frau. Sie ist festgebunden an den Tragstuhl, niedergehalten durch das Gewicht seiner Stiefel, eingekerkert wie hinter Gefängnismauern. Nur ihr Antlitz ist sichtbar. Traurigkeit ist in ihr Gesicht geschrieben. Ihre großen, fragenden Augen richten sich auf den Betrachter des Bildes. Sie hält sich fest an den Gitterstäben ihres Gefängnisses. Ihr ruhiger Blick bedeutet vielleicht schon einen stillen Triumph: „Schaut her, ich habe widerstanden. Ich ließ mir keine Maske überstülpen, ich habe keine Binde vor den Augen. Ich leide zwar, aber ich sehe. Und wenn ich die einzige bin, die widersteht, die sich nicht anschließt dem Sog der Menge, dann bin ich ganz ruhig und sicher. Spätere werden sich einmal auf mich berufen und werden sagen: Einige von uns haben Widerstand geleistet.“ Aber wie eine karnevalistische Spottfigur wird sie mitgerissen, wie eine Siegestrophäe des über ihr thronenden Gebieters. Sie ist seine Beute.

 

Zwei Maskierte in ihrer Nähe. Der auf der linken Seite mit erhobenem Finger liebedienerisch auf den Führer weisend und sie wohl belehrend, sie solle sich doch nicht länger der allgemeinen Begeisterung entziehen. Der andere: Voll demonstrativer Ergebenheit gegenüber dem neuen Feldherrn. Er fühlt sich schon in Tuchfühlung mit der Macht und hat sich selbst schon verkleidet oder eingekleidet mit den sieg- und heilversprechenden Farben der neuen „Bewegung“. Es sind schon die Farben der geheimnisvollen Maske (in der rechten unteren Bildhälfte), die mit Schwarz und Weiß und Rot schon etwas ahnen lässt vom wahren Charakter des großen Gebieters und von seiner Absicht, Blut und Tod über die Menschen zu bringen. Aus dieser Todesmaske quillt schon ein ganzes Bündel giftgrüner Narrenkappen – natterngleich. Sie sind die Saat jenes Bösen, der sich der Menge noch anbietet als ihr Wohltäter. Aber was wird aus diesem Aufbruch? Das 2. Bild lässt keinen Zweifel mehr aufkommen über den wahren Charakter des charismatischen Führers.

 



[1] Der Schreiber dieser Zeilen hat bewusst auf die Titel dieser drei Triptychonbilder verzichtet. Sie zu nennen ist Sache des Malers und nicht zuletzt des Betrachters.

 

 

 

Bild 2

 

Der Gewalttätige nimmt hier fast die ganze Fläche des Bildes ein. Nicht wie ein ruhmreicher Feldherr der früheren Zeiten mit Kampfross, sondern wie ein zynischer Henker, mit entblößtem, athletischem Oberkörper stellt er sich in Szene. Er tut dies reitend auf einem Kinder-Steckenpferd, das, wie der Tragstuhl im 1. Bild, ihn ausweist als Usurpator, als einen unrechtmäßigen Besitznehmer, als einen, der unter Bruch aller bisherigen Rechtsnormen an die Macht gekommen ist. Er reitet jedoch nicht ein Steckenpferd, sondern sein Steckenpferd, mit dem viele im Publikum ihn nicht ernst nehmen konnten, ihn für lächerlich hielten.

 

Offen trägt er nun die Maske; aber nicht mehr, um seinen wahren Charakter zu verbergen, sondern um aller Welt zu zeigen, dass er nun seine Macht angetreten hat.

 

Die Maske des eher sympathischen Soldatenkaisers braucht er jetzt nicht mehr. Jetzt ist er der Kriegsherr, der kometengleich aufgestiegen ist zum Gipfel der Macht und der nun wie ein rasendes, zerstörendes Feuer über den Himmel fährt und den Horizont brennen lässt. Alle Welt wird durch diesen Feuerbrand in Tod und Nacht gestürzt (schwarzer Bildhintergrund!).

 

Sein „Spielzeug Steckenpferd“ erweist sich bei näherem Zusehen als ein dämonisches Utensil. Seine Ohren wirken wie zwei Hörner und das Ende des Steckens ist in Wirklichkeit eine Lanze, die auf das Haupt eines Menschen gerichtet ist.

 

Die Brutalität des Reiters zeigt sich in der Art, wie er die Zügel führt. Er reißt und stranguliert sein Pferd. Die Zügel gleichen schon eher einer Peitsche.

 

Der untere Teil seines Steckenpferds überlagert den Kreuzbalken, auf dem ein Christus-Corpus liegt mit verbundenen Augen, mit verbundenem Gesicht. Der feste Knoten ist ein Zeichen für „Fessel“. Diese genügt aber offenbar nicht. Der Gefesselte wird der Verächtlichkeit preisgegeben. Er ist ohne Bedeutung, wird zum Gerümpel geworfen.

 

Zwei Grundelemente des Christlichen, Kreuz und Crucificus sind darum auch an den Bildrand verdrängt. Er kann über sie hinweggreifen. Sie sind keine Größe mehr (Im Bild die Kleinheit des Christus im Vergleich zur Körpermasse des neuen Messias).

 

Die Menschen, aufgetürmt zu einem Totenhügel, ohne Gesicht und in tiefer Apathie verfallen, scheinen wie lebend Tote. Die Art, wie sie der Reiter unter seine Schenkel presst, macht deutlich: Sie sind ihm ausgeliefert. Seine Herrschaft über sie ist vollkommen.

 

Aber unter den lebend Toten ist noch ein schönes, waches Gesicht: Das Gesicht jener Frau, die sich dem großen karnevalistischen Treiben im 1. Bild nicht angeschlossen hat und die als Siegestrophäe mitgeführt wurde. Dieses Gesicht hat seine Leidensfähigkeit nicht verloren. Wie eine „mater dolorosa“ unterm Kreuz erhebt sie die Hände zur Klage. Ihre großen, melancholischen Augen sind der einzige „Lichtblick“ in diesem Bild. Wer ist sie? Kommt ihre Kraft aus erfahrener Demütigung und erlebtem Schmerz? Oder kommt sie aus der Hoffnung auf den Gekreuzigten? Ist sie vielleicht jene „starke Frau“, die durch ihre Lauterkeit widersteht den Mächten der Verführung und der Zerstörung? Ist es erlaubt, an jenes „Weib“ zu denken, das in der Johannes-Apokalypse, 12. Kapitel erscheint als ein „Zeichen am Himmel“? Ist sie es, die im Kampf mit dem „großen, roten Drachen“ verwundet wird und am Ende mit ihrem Kind entrückt ist auf den Thron Gottes?

 

Wer wäre dann letztendlich der große Feldherr dieses Bildes? Nimmt Helmuth Hager mit seinem Triptychon, das ja in der Malerei der Jahrhunderte immer im religiösen Zusammenhang stand, einen Schwenk ins Religiöse oder Sakrale? Wendet er sich ab von seinen Menschenbildern, die für ihn so charakteristisch sind und so faszinierend?

 

Das 3. Bild gibt die Antwort darauf.

 

Bild 3

 

Wer im 2. Bild eine eher religiöse Aussage des Künstlers vermutet hat, der steht fassungslos vor dem dritten. Denn im dritten Bild müsste sich in einem gewissen Sinn der Sieg des Guten oder der Sieg Gottes erweisen. Aber nichts von alledem.

 

Der Bildhintergrund ist tiefschwarz. Er ist vorgerückte Nacht. Die Farben des Bildvordergrunds werden noch bestimmt vom Dunkel der Nacht und vom Rot des Blutes der Menschen.

 

Ein abgeschlaffter, in Müdigkeit verfallener Dickwanst treibt in einem lächerlichen Bottich steuerlos auf einem Meer von Blut. Die Menschen, die er bislang bekriegt hat, treiben als gesichter- und wesenlose Schrumpfköpfe an der Oberfläche des Blutmeeres dahin. Er hat sie mit seinem Stiefel zertreten. Ihre Vernichtung ist nicht nur physisch. Sie ist total. Er hat ihnen das Gesicht genommen und damit ihre Würde. In der linken, unteren Ecke wieder die unheilverkündende Maske des Monsters! Sie ist das Attribut des derben Stiefels, den er im Menschenblut baumeln lässt. Aber sein Mordwerkzeug, die spitze Lanze, bleibt geschultert für neue Taten. Sie zeigt in dieselbe Richtung wie im 1. Bild und auch sein Helm zeigt Bereitschaft an für neue Taten.

 

Auf der linken Bildseite, ganz nahe der bösen Maske ein Hahn. Aggressiv seine Haltung und seine Farben. Sein fliegender Federbusch hat die Farbe des Feuers, sein Hals ist vorgestreckt und sein Schnabel verrät aggressives Hahnengeschrei: Auf, es geht auf den Morgen zu, schlaf nicht ein, der Kampf gegen den Menschen geht weiter! Die Sache ist nicht zu Ende.

 

Vielleicht ist es müßig, „das wahre Wesen des Hahns“ (F.X. Hofer, Der Kentaur) zu ergründen. Ist er die Verkörperung eines bösen Prinzips oder was sonst? Nicht falsch wird es sein, den Hahn zu deuten als ein Wesen von aggressiver Beharrlichkeit, das sich nicht so schnell abschütteln lässt von seinem Vorhaben (Schreien, Scharren, Verfolgen). Wichtiger als der Versuch einer diffizilen Deutung des archetypischen Bildes „Hahn“ ist die Wahrnehmung der Grundaussage von Helmuth Hagers Bildern – und die heißt: Der Mensch an sich, aber auch der Mensch in seinen Beziehungen zur Gesellschaft ist gefährdet. Diese Gefährdung kommt von den Mächten der Zeit und von den Übermächten (Ideologie, Trends, technische Zivilisation, Konsum und alle Ismen der Vergangenheit und der Gegenwart, nicht ausgeschlossen auch die Religionsgemeinschaften und deren übereifrige Vertreter).

 

Vielleicht wollen die Bilder Helmuth Hagers auch so etwas sein wie die Antipode jenes kriegerischen Hahnes: Ein Weck- und Wachschrei an seine Mitmenschen: Seid auf der Hut, wacht auf, lasst euch nicht länger einschläfern! Reißt den Versuchern und Menschenverächtern die Maske vom Gesicht, nennt sie beim Namen, seid keine Mitläufer, geht eueren eigenen Weg, lernt aus der Geschichte, prüft die Geister, die euch schmeicheln und die allzu eilig auf euer Wohl bedacht sind.

 

Dem Betrachter, der ein Zeitzeuge des III. Reiches ist – kein sehr mutiger – liegt eine zeitgeschichtliche Deutung der drei Bilder sehr nahe. Andere Deutungen sind aber durchaus legitim. Jedenfalls gilt: Helmuth Hagers Bilder entstammen nicht einem abgehobenen Fühlen und Denken, sondern sind voller Leben. Er ist und will nicht sein der Maler einer heilen Welt, wenngleich die Sehnsucht nach einer schöneren, friedlicheren Welt in allen seinen Menschenbildern mitschwingt.

 

Joseph Beuys hat einmal das Einverständnis seiner Künstlerfreunde gefordert, sie mögen doch den „Stoff des Christlichen“ in ihre Werke hineinnehmen als eine „Notwendigkeit für die Kunst selber“, denn gerade aus diesem Stoff kämen „Leben, Geist, Inspiration und Intuition“.

 

Der Maler Helmuth Hager muss sich dieses „Einverständnis“ nicht abringen. Er selber ist von diesem „Stoff des Christlichen“ durchdrungen, ob er es weiß oder nicht, ob er es will oder nicht. Das christliche Ethos ist in allen seinen Bildern präsent. Es äußert sich nicht selten in leidenschaftlicher Anklage und in zynischer Bloßstellung, aber auch im Mitleiden, im Erbarmen, im Helfenwollen, im Parteinehmen für die Gequälten und Verachteten. Aber er lässt auch das Leben hochleben, er huldigt dem Eros und er feiert die Liebe.

 

Man darf sich nicht begnügen mit dem Anschauen seiner Bilder, man muss sich ihnen stellen. Wer ihn näher kennt, der weiß, welches Maß an „christlicher Erfahrung“ er von seinen Vorfahren übernommen hat, wie deren Leiden, Demütigungen, aber auch Lebenslust sich manifestieren in seinen Bildern. Das wahre Bild des Menschen und seiner Würde, das ist es, was Helmuth Hager leidenschaftlich sucht.

 

 

 

Bad Tölz im November 1996                                     Eduard Ertl